Geschichten vom Missionsfeld

Juli 2018

Zeit zum Aufstehen - Eindrücke aus der Türkei

Ich muss mich für einen Moment setzen. Ich bin in Izmir in der Türkei. Irgendwo in einem Stadtteil, wo die meisten der ungefähr 150.000 Geflüchteten leben, die gerade allein in der Stadt Izmir sind. Gerade habe ich versucht in die Augen eines Mannes zu schauen, der mit seiner Familie ein Lebensmittelpaket von uns bekommen hat: Ich sehe in ein völlig vernarbtes Gesicht. Keine Augen mehr. Die Fingerkuppen abgetrennt und tiefe Spuren an den Unterarmen. Auf mein Nachfragen erfahre ich, dass das die Folgen eines Granateneinschlages sind. Er ist aus Aleppo geflohen. Wie übrigens die große Mehrheit der anderen, meistens Frauen und Kinder, die ich an diesem Tag treffe. „Wir kommen aus Aleppo!“, ist der Satz, den ich heute am Häufigsten zu hören bekomme.

Ich musste mich für einen Moment setzen, weil ich einfach nur mal Luft schnappen wollte. Einatmen, Ausatmen. Für einen Moment war ich an meine Grenzen gekommen. Wir waren zu viert schon in Istanbul, Samsun, Ordu und Adana. Alles Orte, an denen EBM INTERNATIONAL die Arbeit von kleinen Baptistengemeinden unterstützt. Viele Inlandsflüge und Eindrücke von Gemeinden lagen bereits hinter uns. An vielen Orten tut Gott mit diesen kleinen Gemeinden von 20-80 Menschen unglaubliche Schritte. In Adana waren wir in einem informellen Flüchtlingscamp, wo ungefähr 700 Menschen leben. Die Gemeinde ist in den letzten sechs Jahren von 3 auf 35 Mitglieder gewachsen. Das ist ein Wunder in diesem Land, wo 99,6% der Menschen Muslime sind. Unser Pastorenteam verteilt immer wieder Hilfspakete, besonders eben in Adana und Izmir. An diesen Tagen im Juni hatte ich das Privileg dabei zu sein.

Ich musste mich für einen Moment setzen, weil sich diese Eindrücke tief in mir einbrennen. Diese vielen Menschen, die wirklich nichts mehr haben, für die ein Lebensmittelpaket im Wert von 14 Euro einen großen Unterschied macht. Diese über die Maße engagierten Pastoren, die Verteilaktionen gewissenhaft organisieren, damit sie gut und so fair wie möglich ablaufen. Sie beziehen die Verantwortlichen der Stadt mit ein und jede Empfängerin eines Pakets wird registriert und muss ihre Identität als Geflüchtete zeigen. Die Helfenden und die Geflüchteten können so viel mehr aushalten als ich: Sie haben oft nicht einmal die Zeit, sich für einen Moment zu setzen.

Nun sitze ich für einen Moment an diesem Text: Eine neue Geschichte vom Missionsfeld ist entstanden. Ich werde diese Bilder nicht so leicht aus meinem Kopf bekommen. Und wahrscheinlich ist das gut so. Ich merke gleichzeitig, dass es Zeit zum Aufstehen ist: Die Pastoren in der Türkei machen wie viele andere Mitarbeitende von EBM INTERNATIONAL in mehr als 300 Projekten auf der ganzen Welt eine beeindruckende Arbeit. Gott selbst war stark genug, um nicht auf dem Thron sitzen zu bleiben, sondern mitten in diese Welt und unseren Alltag zu kommen. Wir alle können mit unseren Gaben, mit unserem Geld und mit unseren Gebeten einen Unterschied machen. Wir dürfen uns klarmachen, dass wir miteinander verbunden sind, in Freud und Leid. Es gibt keinen Grund in Lethargie zu verfallen. Wir teilen Gottes verändernde Liebe, damit Menschen in Hoffnung leben. Alles, was wir hier teilen, macht an einem anderen Ort einen Unterschied.

Und so bleibt nach jeder kurzen Sitzpause die Ermutigung immer wieder neu aufzustehen und mit kleinen Schritten die Welt ein bisschen besser zu machen.

Matthias Dichristin